Der Röhrenblick ist nicht nur eine bestimmte Form der Sehbeeinträchtigung, sondern in übertragenem Sinn auch eine Geisteshaltung. Bildlich verstanden, ist er ein Ausdruck der Arroganz oder gar Ignoranz gegenüber anderen Mitmenschen.
Was der kann, das müssen alle anderen auch können. Immer wieder begegnet man als Blinder solchen Vorstellungen, wenngleich sie durchaus sehr unterschiedlich ausgeprägt sein mögen. Von dem einen Behinderten, den man zufällig kennt, schließt man auf alle anderen.
Doch derartige Haltungen sind nicht allein auf Nichtbehinderte begrenzt. Bei genauerem Hinsehen findet man sie auch bei Betroffenen selbst: Wenn ich das kann; warum können andere das dann nicht auch?
Dabei sind Menschen ausgesprochen vielfältig und verschieden. Fähigkeiten und Talente sind sehr unterschiedlich verteilt. Das gilt auch für Behinderte.
Dennoch verhalten sich mitunter auch Mobilitätstrainer und selbst Vertreter von Blindenorganisationen so, als wüssten sie ganz genau, was alle Blinden und Sehbehinderten gefälligst zu können haben: Sie stimmen der Abflachung von Bordsteinkanten bis aufs Nullniveau oder dem Abstellen von Ampeltönen zu oder akzeptieren Bauplanungen, bei denen keine Leitlinie zur Orientierung mehr übrig bleibt.
Bei Mobilitätstrainern ist das leicht zu erklären: Sie kennen die Lebenswirklichkeit Blinder zwar aus eigenen Erfahrungen unter der Augenbinde sowie aus den Trainingsstunden mit ihren Probanden, aber nicht aus dem alltäglichen Leben oder gar von Stress-Situationen her. Für die Bewältigung schwieriger Aufgaben haben ihre Schützlinge meist sehr viel Zeit.
Im Alltag jedoch haben es Blinde mitunter auch eilig, wenn sie beispielsweise zum Bahnhof laufen und dort einen bestimmten Zug noch erreichen wollen. Blinde haben nicht immer so viel Ruhe und Zeit wie bei Trainingsstunden. Und sie haben auch mal einen schlechten Tag, an dem ihnen gute oder grässliche Gedanken durch den Kopf gehen und sie von allem anderen ablenken.
Bei den Selbsthilfe-Organisationen sind es häufig junge und mobile Blinde, die von sich auf andere schließen. Sie können bestimmte Mobilitätssituationen gut bewältigen und erwarten das Gleiche dann auch von ihrer Mitgliedschaft.
Doch je älter der Mensch wird, desto weniger flexibel ist er. Die Bewegungen des Körpers und des Geistes werden langsamer und behutsamer.
Mit zunehmendem Alter gesellen sich zur Sehbeeinträchtigung oft auch noch weitere Behinderungen hinzu. So sind viele Sehbehinderte und Blinde zugleich auch noch von anderen Einschränkungen betroffen.
Mehr als zwei Drittel der sehbehinderten und blinden Bundesbürger sind älter als 60 Jahre. Wenigstens die Hälfte von ihnen dürfte außer ihrer Sehbeeinträchtigung noch weitere körperliche Einschränkungen haben.
Aber selbst unter jüngeren Erwachsenen mit stark eingeschränkter Sehfähigkeit wird der Anteil mehrfach behinderter Betroffener nicht gerade gering sein. Schließlich schlägt die – bei Männern im jungen Erwachsenenalter am weitesten verbreitete – Erblindungsursache auch auf das Gehör. Dann kann sich die Retinopathia Pigmentosa (RP) so stark auswirken, dass sie als „Usher-Syndrom“ zur Taubblindheit führt.
Bei den meisten RP-Erblindeten merkt man indes nur wenig von dieser Höreinschränkung. Sie liegt vielleicht bei 5 Prozent, die nur der Ohrenarzt bei einem Test feststellen wird. Im Alltag hört man das eine oder andere nicht deutlich, doch sind Geist und Gehör so gut trainiert, dass man sich dennoch darauf verlassen kann.
Das sprichwörtliche „Absolute Gehör der Blinden“ ist indes sehr selten. Ein trainiertes Gehör, das verschiedene Geräusche voneinander unterscheidet und bestimmten Quellen zuordnet, kann trotzdem weit unterhalb des normalen Hörvermögens rangieren.
In Grundschulen für Blinde und Sehbehinderte treffen die Pädagogen auf einen hohen Anteil mehrfach behinderter Kinder. Hirnschädigungen führen bei ihnen sowohl zu Beeinträchtigungen des Sehvermögens als auch zu motorischen oder geistigen Behinderungen.
Weitere Einschränkungen sind unter Blinden wahrscheinlich mindestens genauso verteilt wie unter Nichtbehinderten. Auch in dieser Personengruppe gibt es vermutlich fast alles, was auch in der „Normalbevölkerung“ vorkommt.
Statistisch mag man deswegen vermuten, dass mehr als ein Drittel der Blinden und Sehbehinderten auch noch von anderen körperlichen oder geistigen Einschränkungen betroffen ist. In der Wahrnehmung der Selbsthilfe-Organisationen und auch bei vielen Betroffenen scheint diese Tatsache indes keine Rolle zu spielen.
Als mehrfach behinderter Blinder hat man es deshalb sehr schwer. Rücksicht auf die weiteren Behinderungen nehmen nur die wenigsten Zeitgenossen. Die Sehbeeinträchtigung überdeckt alles andere.
Hier wären mehr Einfühlungsvermögen und weniger Ignoranz auch bei anderen Sehbehinderten und Blinden wünschenswert. Jedenfalls sollten sie ihren mehrfach behinderten Kollegen nicht die Ampeltöne, die Bordsteinkanten oder andere alltägliche Hilfen unter den Füßen und Ohren wegkürzen!
Notwendig ist zunächst eine Diskussion innerhalb der Selbsthilfe. Zweiter Schritt sollte dann die Aufklärung der Öffentlichkeit über die statistische Häufigkeit zusätzlicher Beeinträchtigungen bei Blinden und hochgradig Sehbehinderten sein. Behindertenfeindlichkeit von Behinderten oder auch nur Ignoranz gegenüber den Belangen anderer Behindertengruppen darf es jedenfalls nicht geben!
Ich würde gern auf das umgekehrte Phänomen hinweisen: „Wir hatten vor 20 Jahren einen Blinden im Praktikum, der sich nicht selbstständig von Ort zu Ort bewegen konnte, drum stellen wir keine Blinden mehr ein.“ Das ist meiner Liebsten passiert. Grundsätzlich sind Fähig- und Möglichkeiten so unterschiedlich, wie es Menschen gibt.