Die Tante kommt zu Besuch: Spieglein, Spieglein an der Wand

Meine Großtante wohnte im Altenheim. Dort herrschte ein makabrer Wettbewerb.
Beschreiben könnte man dieses Ringen um „Respekt“ in Abwandlung eines bekannten Märchens der Brüder Grimm. Allerdings richtete sich in dem Seniorenstift die Frage nicht an den Spiegel, sondernan die Mitbewohnerinnen: „Döslein, Döslein im Nachtschrank, wer von uns ist am allermeisten krank?“
Meine Großtante war stets die Gewinnerin. Bei diesem Spiel war sie aber auch stark im Vorteil: In ihren jungen Jahrenhatte sie als Krankenschwester mit berühmten Ärzten zusammengearbeitet.
Darum wusste, welche Symptome sie vortäuschen musste, um ein Medikament verschrieben zu bekommen. Natürlich wusste ihr Hausarzt auch Bescheid und verschrieb ihr meist nur Plazebos. Die aber häuften sich in riesigen Mengen zu aller Erstaunenauf ihrem Nachttisch.
Die Bewohnerin mit den meisten Medikamenten war natürlich die Kränkeste und Bedauernswürdigste. Meine Großtante ließ sich diese Position von niemanden in ihrem Heim jemals streitig machen.
Ab und an kam sie zu uns zu Besuch. Dann blieb sie so lange, bis sie meiner Mutter auf die Nerven ging. Wenn sie sich allzusehr in die Erziehung der Kinder einmischte, dann gab meine Mutter ihrer Tante zu erkennen, dass es nun Zeit für die Heimfhrt war.
Alle in der Familie nannten sie nur „Die Tante“,denn meine Großmutter mütterlicherseits hatte nur diese eine Schwester. „Die Tante“ kümmerte sich bei unseren Besuchen beim Großvater in Rheinbach immer um die Kinder. Sie ging mit uns im Wald spazierenund erzählte unsMärchen.
Bei ihren Besuchen in Bonn erzählte sie ebenfalls Märchen. „Die Tante“ hatte nämlch eine rege Phantasie. Was sie morgens in der Zeitung gelesen hatte, das hatte sie abends selber miterlebt.
Bei einem ihrer Besuche ging ihr Medikamentenvorrat zur Neige. „Die Tante“ benötigte Darmreinigungsperlen. Die brauchte sie bei uns nicht zumAngeben, sondern wirklich für ihre Verdauung.
Mein jüngerer Bruder ging für sie zur Apotheke. Dort erntete er einen heftigen lacher, als er der Apothekerin seine Bestellung übermittelte. Der Junge bat sie nämlich um „Damenreinigungsperlen“.