Den stärksten Stamm kann ein Sturm umknicken wie einen Strohhalm. Die Allmachtsphantasien vieler Manager und Forscher können innerhalb weniger Wochen zerplatzen wie Seifenblasen.
Mitte Februar schien die Welt noch weitgehend in Ordnung zu sein in Marburg. Bei der Mahnwache für die Freilassung von Julian Assange standen die Aktiven am Samstag (22. Februar) noch unbesorgt auf dem Marktplatz und liefen danach in einem Schweigemarsch für die Opfer des Terroranschlags von Hanau durch die Stadt. Dabei dachten sie kaum nach über das Coronavirus.
Doch schon eine Woche später begann ich, mir Sorgen zu machen deswegen. Mit hoffnungsfrohem Optimismus kündigten wir die nächste Mahnwache für Samstag (2. Mai) an. Noch ahnten alle nicht, wie heftig Covid 19 in den Alltag aller Menschen hineinwirken würde.
Am darauffolgenden Sonntag (1. März) jedoch war alles nicht mehr so wie einen Tag zuvor. Leere Regale in einigen Supermärkten zeugten am Samstagabend bereits von der Furcht vieler Menschen vor der Zukunft. Am Montag (2. März) begann auch ich damit, Vorsorge zu treffen für eine längere Isolation daheim.
Überlegt habe ich, woher meine wichtigsten Alltagsprodukte stammen und welche Lieferketten vielleicht gefährdet sein könnten. Mein „unverzichtbares Lebenselixier“ Kaffee stand danach ganz oben auf meiner Einkaufsliste.
Nudeln und Butter, Mehl und marmelade, Käse und Brotaufstrich sowie Brot und Waschmittel folgten danach auf der Einkaufsliste. Toilettenpapier stand nicht darauf. Als Klopapier knapp wurde, musste ich zuerst einmal herzhaft darüber lachen, wie viel Scheiße die Deutschen nach eigener Einschätzung offenbar produzieren angesichts dieser Priorisierung.
Die Situation erinnerte mich an meine Mutter, die stets darauf achtete, immer genügend Vorratvon allen wichtigen Dingen zu haben. Sie hatte den 2. Weltkrieg und die Hungerjahre danach miterlebt. Ihre mutter war an den Folgen des Hungers gestorben, weil sie sich das Essen für ihre 13 Kinder buchstäblich vom Mund abgespart hatte.
Extrem geärgert hat mich angesichts dieser Familiengeschichte und der in mehreren Vorerkrankungen begründeten Notwendigkeit, Einkaufsgänge durch den Erwerb größerer Warenmengen auf das geringstmögliche Maß zu reduzieren, das Verbot sogenannter „Hamsterkäufe“ durch die Marburger Landrätin Kirsen Fründt. Vorrat ist etwas Überlebensnotwendiges, um nicht in der häuslichen Isolation verrückt zu werden vor Angst. Das gilt vor allem für meine Mitbewohnerin, die ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung (BTBS) durch konsequente Reinhaltung der Wohnungund strategische Vorratskäufe entgegenwirkt.
Beschwichtigende Beteuerungen, von Allem sei genügend Ware vorhanden, straft solch eine Verbotsverfügung Lügen: Stimmen diese Behauptungen, ist ein Verbot von Vorratskäufen unnötig und überflüssig. Stimmen sie nicht, bedroht das Verbot die Menschen nicht nur psychisch, sondernauch physisch.
Ohnehin entbrannte im März leider ein erschreckender Überbietungswettbewerb in Sachen „Coronaschutz“. Markus Söder in Bayer gab den „starken Mann“ und preschte voraus. Einige andere kamen kaum umhin, ihm nachzulaufen.
Die Demokratie ist in Gefahr, wenn Verantwortliche in Politik und Behörden Verbote verfügen, die nicht zwingend erforderlich sind zur Eindämmung der Pandemie. Dieses Übermaßverbot als Ausdruck des Verfassungsprinzips der Verhältnismäßigkeit aller staatlichen Maßnahmengeriet in diesen Tagen leider mehrmals unter die Räder. Besonders betrüblichist die gesetzliche Einschränkung der Freiheitsrechte beatmungspflichtiger Behinderter durch ein Gesetz, das der sogenannte „Gesundheitsminister“ Jens Spahn schonvorher geplantund im Zuge der „corona-Hilfspakete“ ohne ausreichende Diskussion hastig durch Bundestag und Bundesrat hindurchgepeitscht hat.
Gefährlich ist übrigens der Begriff „Risikogruppen“ oder „Risikoperson“. Nicht Menschen sind ein „Risiko“ oder eine Gefahr, sondern das Virus und die Naturzerstörung und neoliberale Globalisierung, die seine rasante Verbreitung über die gesamte Erde hinweg begünstigt haben. Wer alte,kranke, behinderte oder wirtschaftlich benachteiligte Menschen aus der Gemeinschaft hinausdrängt und ihre Freiheitsrechte mehr einschränkft als die anderer Menschen, der zerstört damit die grundlegende Gleichheitsvermutung der Demokratie und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig.
Demokratie ist letztlich nichts anderes als die Verantwortung aller für alle. Weder Politik noch Verwaltung kann der Bevölkerung diese Verantwortung abnehmen. Das darf auch niemals geschehen!
Immer zu bedenken ist bei allen Maßnahmen und Debatten auch, dass manche Mitmenschen psychisch labil sind. Ihnen machen übermäßige Einschränkungen Angst. Wem wäre geholfen, wenn Tausende in diesen Wochen nicht an Covid 19 stürben, sondern aus Angstvor Überforderung den Freitod wählten wie der hessische Finanzminister Dr. thomas schäfer?
Ebensowenig wäre allen geholfen,wenn die Einschränkungen voreilig gelockert würden. Eine Lockerung einzelner Maßnahmen mag durchaus sinnvoll sein, damit vor Allem labile Menschen Erleichterung verspüren. Aber jede Aufweichung muss in erster Linie den Schutz der Menschen beachten.
So wäre für Menschen mit einer Agoraphobie die Öffnung geeigneter Cafés hilfreich, wo sie in Abstand von anderen sitzen und vor Allem im Freien die Sonne gnießen könnten. Dazu müssten die Betreiber ja nur vonjedem zweiten Tisch die Stühle entfernen und solche Plätze zustellen, die nahe an den Zugängen liegen. Ein Betrib außerhalb geschlossener räume wäre dabei ideal.
Erleichterung empfinde ich, dass ich in meiner großen Wohnung umherlaufen kann vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer, zum Arbeitszimmer und zur Küche oder bei schönem Wetter auch auf meinen Balkon. Niemand bombardiert Marburg oder droht damit. Gegenüber vielen Menschen in überfüllten Camps oder Slums empfinde ich meinen Wohlstand als beschämende Pflicht, mich für eine gerechtere Verteilung von Gütern und Gefahren weltweit einzusetzen.
Besonders erfreut mich in dieser Zeit das herausragende Engagementzahlreicher Mitmenschen. Solidarität hilft am besten gegen das Coronavirus. Sie wirkt heilsam und heilt viele Wunden der verantwortungslosen Vergangenheit.
Gerade jetzt müssen Demonstrationen unter Einhaltung der Abstandsregeln möglich bleiben. Wer Covid 19 ausnutzt, um das Demonstrationsrecht einzuschränken, der verrät damit eine undemokratische Gesinnung. Demokratie ist aber genau die Grundlage, die uns alle vor er Leugnung der Epidemie wie im Dezember 2019 in China schützt.
Am Ende wird sich die Welt nach der Pandemie hoffentlich stark verändern. An die Stelle des neoliberalen Egoismus und gieriger Großmannssucht sollten nun solidarisches Handeln und mitfühlendes Engagementtreten. Wenn diese Solidarität nicht dem Floriansprinzip folgen soll, dann müssen die Verantwortlichen in Deutschlandjetzt sofort Flüchtlinge aus gefährlichen Camps in griechenland oder anderswo auf der Welt herausholen undin leerstehenden Hotelsunter Quarantäne einquartieren.
Irgendwann in der Zukunft werden unsere Kinder und Enkelkinder uns fragen: „Was habt Ihr damals getan?“ Diese Fragen müssen wir heute schon richtig beantworten.
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