Ländlich geprägt war Lessenich Anfang der 60er Jahre längst nicht mehr. In alle Richtungen wuchsen Siedlungen an den Ausfallstraßen immer weiter zum Dorfrand hinaus.
Bauernhöfe gab es noch an der schmalen Hauptstraße und in Meßdorf. Ansonsten war der Hof an der Einmündung unserer kleinen Straße in die Gartenstraße wohl einer der wenigen anderen. Der Bauer dort bewirtschaftete Felder ung Obstplantagen in der Nähe unseres Hauses.
Gleich neben unserem Garten lag eins seiner Felder. Ein hoher Maschendrahtzaun trennte es vom Rasen in unserem Garten ab. Durch diesen Zaun konnten wir Kinder den fleißigen Bauern bei der Feldarbeit beobachten.
Der Bauer besaß einen Einachstraktor der Marke „Holder“. Ihn spannte er wahlweise vor Pflug und Egge oder einen ebenfalls einachsigen Anhänger. Beim Pflügen und Eggen musste der Mann hinter dem Gefährt herlaufen und es an zwei langen Stangen steuern.
Zum Abtransport der Produkte belud er seinen kleinen Anhänger mit dem geernteten Gemüse oder Obst. Dann setzte er sich auf eine Bank vorne am Anhänger und lenkte den kleinen Trecker mit den langen Stangen durch den Verkehr. In Stapeln von Holzkisten transportierte er seine Erzeugnisse, die oft aber auch von einem vorbeikommenden Lastwagen vor dem Tor des Bauernhofs aufgeladen wurden.
Manchmal spritzte er die Saat auf seinem Acker nebenan von unserem Haus mit Schädlingsbekämpfungsmitteln. Vorher sagte er dann meiner Mutter Bescheid, dass die Kinder an diesem Tag nicht in den Garten dürften. Trotzdem haben wir neugierigen Kinder ihn gespannt beobachtet, wie er mit einer Maske vor dem Gsicht und einer Flasche auf dem Rücken über den Acker gingund mit einem Schlauch eine Flüssigkeit daraufspritzte.
Dieser Bauer besaß mehrere Felder rund um Lessenich herum. Auch die Obstplantage hinter dem Feld gehörte ihm. In Verlängerung unseres kleinen Sträßchens führte ein sandiger Feldweg mit Grasnarbe in seiner Mitte bis zu den Obstbäumen.
Andere Bauern hatten größere Traktoren. Aber die meisten von ihnen erwirtschafteten nicht genug aus den Erträgen ihrer Ernte. Reich wurden fast alle von ihnen, weil sie ihre Äcker nach und nach als Bauland verkauften.
Das gilt auch für den Schwiegervater von einem meiner Onkel. Er galt als der ungekrönte „Erdbeerkönig“ von Duisdorf, weil er sich ganz auf Erdbeeren und Rhabarber spezialisiert hatte. Alle paar Jahre verkaufte er einen Acker als Bauland, was seinem Sohn und meiner Tante zu einem üppigen Erbe verhalf.
Traktoren und Mähdrescher hatten es mir als Kind aber angetan. Stundenlang beobachtete ich solche landwirtschaftlichen Maschinen, wenn ich die Familie meiner Mutter in Rheinbach besuchte.
Meine Mutter hatte eine Tante. Da sie die einzige Schwester meiner Großmutter war, wurde sie in der Familie nur „Die Tante“ genannt. Diese alte Dame kümmerte sich um uns Kinder, wenn meine Mutter ihren Vater und ihre Geschwister in Rheinbach besuchte.
„Die Tante“ erzählte uns Märchen der Brüder Grimm und von Hans Christian Andersen. Sie erzählte schaurige Geschichten und schmückte sie mit viel eigener Phantasie aus. Mehr als einmal erzählte sie vom bösen Menschenfresser im Wald, der sich hinter Bäumen versteckte und auf kleine Kinder wartete, die er mit Genuss zu verspeisen pflegt.
Am Abend vor dem Schulausflug nach Alfter träumte ich von ihm. Ich ängstigte mich, auf dem Weg könne der böse Menschenfresser am Wegesrand warten und unsere ganze Schulklasse samt Lehrrin einfach verschlingen. Schweißgebadet wachte ich am frühen Morgen auf
Erleichtert machte ich mich dann mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern auf den Weg über die Felder nach Alfter. Auf dem Weg von Lessenich aus dorthin gab es gar keinen Wald. Da war auch kein Platz, wo sich jemand hätte verstecken können, selbst wenn er gar kein Menschenfresser gewesen wäre.
Ein anderer Schulausflug führte uns auf die Hardthöhe. Dabei gingen wir tatsächlich durch ein Waldstück, aber die Lehrerin war ja bei uns und auch ihr Ehemann. Der Gatte der guten Pädagogin war Polizist und hatte für uns auf einer Wiese hinter dem Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) eine Vorführung der Reiterstaffel und der Hundestaffel der Bonner Polizei organisiert.
Ebenfalls Polizist war auch ein Nachbar, dessen Sohn oft mit mir spielte. Der Vater war Leiter der „Sicherungsgruppe Bonn“ beim Bundeskriminalamt (BKA). Er bewohnte das Haus in der Parallelstraße zu unserer genau gegenüber vom Gartenzaun, der unser Grundstück zu diesem Wendehammer hin abgrenzte.
Der BKA-Beamte lehrte die Kinder von Lessenich Auto fahren. Das tat er mit seinem privaten Personenwagen. Ein zwölf- oder dreizehnjähriger Knirps saß hinter dem Steuer und der BKA-Beamte daneben auf dem Beifahrersitz.
Irgendwan einmal – so erzählten mir meine Schulkameraden – habe eine Polizeistreife ein Kind bei solch einer Fahrstunde angehalten, weil der Kleine dann doch noch nicht wie ein seriöser Führerscheininhaber aussah. Da habe der BKA-Spitzenbeamte dann nur seinen Dienstausweis gezückt und den Kollegen hingehalten. Daraufhin hätten sie die Hand an den Schirm ihrer Dienstmütze gelegt und den Herrn Kriminaldirektor mit dem Kind am Steuer weiterfahren lassen.
Böse Burschen gab es also kaum in Lessenich. Zumindest habe ich als Kind kaum etwas dergleichen mitbekommen. Dafür lebten auch zu viele gut situierte Leute in Lessenich.
Die Frage nach dem Beruf seines Vaters beantwortete einer meiner Mitschüler mit dem Wort „Oberregierungsrat“. Das klang für mich damals noch viel bedeutender als „Oberpfarrer“ oder „Oberlehrer“. Als meine Familie im Februar 1968 auf den Venusberg umzog, waren die Titel der Nachbarn dort aber weitaus wichtiger.
Immerhin zog 1963 oder 1964 ein Botschafter nach Lessenich. Der Diplomat repräsentierte das afrikanische Land Nigeria. Das lag irgendwo im fernen Afrika und war für uns kleinen Kinder ebenso fremdartig wie die dunkle Hautfarbe des Mannes, den damals noch alle ohne böse Absichten mit dem heute verpönten „N-Wort“ bezeichneten.
Auch das Wort „Bauer“ war damals auch noch kein Schimpfwort, sondern eine einfache Berufsbezeichnung. „Landwirt“ nannten sich die Bauern erst später, weil ihre Berufsbezeichnung mehr und mehr zum Schimpfwort degradiert wurde.
In Lessenich waren die Bauern damals aber tonangebend. Der Bürgermeister war Bauer, und neben ihm saßen noch weitere Landwirte im Gemeinderat. Allerdings regierte damals die SPD das katholische Dorf.
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