Lessenich war bis zum 31. Juli 1969 selbständig. Bis dahin gehörte die Gemeinde zum "Amt Duisdorf".
Lessenich hatte einen Gemeinderat und einen ehrenamtlichen Bürgermeister sowie einen "Gemeindediener". Dieser Mann lief in einer Uniform gelegentlich zu Fuß durch das Dorf und rief amtliche Bekanntmachungen aus. Um zuvor auf sich aufmerksam zu machen, schwenkte er eine laute Schelle.
"Heute nachmitag um drei Uhr wird das Wasser abgestellt", rief er mit rheinischen Tonfall nach dem Klingeln mit der Glocke in seiner Hand. Manchmal stellte der Gemeindediener den Dorfbewohnern auch amtliche Schreiben persönlich zu. Was er sonst noch so alles tat, das habe ich als Kind nicht mitbekommen.
Das "Amt Duisdorf" war die Gemeindeverwaltung für Lessenich und einige weitere Dörfer ringsum. Es war ein mehrstöckiges Gebäude an der größten Kreuzung von Duisdorf, wo sich das tatsächliche Zentrum Duisdorfs des Orts befand. Ein weiteres Zentrum bildete der große Platz gegenüber der Rochuskirche, wo alljährlich die Duisdorfer Kirmes stattfand.
Lessenich hatte auch eine eigene kleine Kirmes. Da standen dann ein paar Verkaufswagen mit Süßwaren, Spielzeug und Schießbude unweit der Kirmes an genau jenem Platz, wo der gebändigte Bach quer unter dem "Grünen Weg" hindurchlief. Ein Karussell, ein Autoscooter oder gar ein Riesenrad wie in Duisdorf fanden dort aber keinen Platz.
Nach dem Besuch der Laurentiusschule bis Ostern 1965 ging ich - ebenso wie meine beiden älteren Brüder - bis zum Umzug der Familie auf den Venusberg im Februar 1968 an jedem Schultag nach Duisdorf ins Gymnasium. Mein ältester Bruder war dort 1961 im ersten Jahrgang der Schule aufgenommen worden. Mein zweitältester Bruder folgte zwei und ich dann vier Jahre nach ihm.
Das Helmholtz-Gymnasium war ein dreistöckiger Bau aus Beton, Stein und Glas. Erst Anfang der 60er Jahre hatte das "Amt Duisdorf" diese Schule gegründet. Darum war das Gebäude wohl auch noch nicht in allen Karten verzeichnet.
Jedenfalls landete eines Tages in der Pause ein Hubschrauber auf dem Schulhof. Der uniformierte Pilot schaute irritiert heraus auf die Kinder und fragte, ob er denn nicht beim Verteidigungsministerium gelandet sei. Lachend wiesen Mitschüler von mir zu dem Blinklicht oben auf der Hardthöhe, das man vom Schulhof aus bei gutem Wetter deutlich wahrnehmen konnte.
Im Gegensatz zu vielen Mitschülern aus Oedekoven und Alfter, die mit dem Fahrrad zur Schule kamen, gingen meine beiden Brüder und ich zu Fuß ins Gymnasium. Unser Weg führte uns vom wendehammer unserer kleinen Straße bis zu deren Einmündung in die größere Gartenstraße, dann links querversetzt ins Fridhofsgäßchen, über den Kirchenvorplatz und dann den Grünen Weg entlang in Richtung Duisdorf. Für das letzte Stück des Schulwegs hatten wir mehrere Wahlmöglichkeiten.
Der kürzeste Weg führte bei der Kreuzung mit der Alten Heerstraße nach links bis zu den feldern und dann rechts einen Feldweg entlang, dessen kaum ausgetretenes letztes Stück kurz vor dem Bahndamm endete. Verbotenerweise überquerten wir dort dann die Gleise, um auf der dahinterliegenden Straße nach links weiterzulaufen, wo wir nach kaum 100 Metern wieder rechts in die Helmholtzstraße abbiegen konnten. Diesen Weg benutzten wir wegen des Verbots nur sehr selten, obwohl wir den Fahrplan der Züge auf der Strecke von Bonn nach Rheinbach und Euskirchen einschließlich der Güterzüge natürlich in- und auswendig kannten.
Einmal erschrak ich mich fast zu Tode, als ich wieder einmal spät dran war und mich für den verbotenen Weg entschied. Plötzlich hörte ich von Weitem einen unerwarteten Zug heranrollen, aus dem seltene Geräusche mich beim verbotenen "Überschreiten der Gleise" fast zu Stein erstarren ließen. Ein Zirkus transportierte auf einem Sonderzug Löwen, Tiger und Elefanten über die Bahnstrecke zu einer Zeit, wo sonst niemals ein Zug unterwegs war.
Nach diesem Schreck benutzte ich dann doch wieder lieber den gut 250 Meter längeren Umweg durch die Felder über den nächsten regulären Bahnübergang mit Blinklicht und Halbschranke oder den anderen Weg durch Duisdorf durch die Burgstraße. Wenn ich auf diesem weg bei der großen Kreuzung nahe des Amts duisdorf ankam, konnte ich entweder die kürzere Strecke durch den Maarweg nehmen oder die wenige Minuten längere an der Duisdorfer Hauptstraße entlang. Gerne ging ich an der Hauptstraße mit ihrem vielen Verkehr entlang und beobachtete dort die Obusse der Linie 15, die vom Bundeshaus über den Bahnhof Bonn nach Duisdorf und dann weiter bis Lengsdorf fuhren.
Bei Regen und Sturm, Schnee und Eis, Sonne und Hitze legten wir den Weg zur Schule zu Fuß zurück. Wenn nicht gerade Frühling oder Sommer war, trugen wir wasserdichte Anoraks oder später olivgrüne Parkas mit Kapuze. Selbst ei schnellem Schritt brauchten wir gute 20 Minuten für den Weg, wenn die Halbschranke offen war und unterwegs keine andere Behinderung uns aufhielt.
Manchmal liefen die beiden Nachbarinnen aus dem Haus gegenüber vor uns. Auf einer Wiese des Bauern hatte ein Maurermeister dort ein Wohnhaus errichtet und die Einliegerwohnung an eine Frau und ihre Tochter vermietet. Ich habe die beiden als stark parfümierte ältere Nilpferde in Erinnerung, was aber wahrscheinlich dem ungerechten Blick eines Kindes auf Frauen zwischen 30 und 60 Jahren und meiner empfindlichen Nase geschuldet ist.
Im Sommer trugen meine beiden älteren Brüder und ich kurze Lederhosen. Im Herbst und Winter waren die Lederhosen knielang. Speckig waren sie vermutlich fast das gesamte Jahr über.
Hosen, Hemden und Pullover "vererbte" mein ältester Bruder Uli seinem nächstjüngeren Bruder Dieter und der dann schließlich mir. Aufgrund des größeren Altersabstands blieb mein jüngerer Bruder Horst vom Auftragen der bereits abgetragenen Kleidung seiner älteren Brüder eher verschont. Meine Mutter liebte es jedoch, ihre Kinder mit Pullovern der gleichen Farbe zu kleiden, sodass alle uns sofort als Brüder erkennen konnten.
Meine großen Brüder waren auch meine bevorzugten Spielkameraden. Bei halbwegs gutem Wetter spielten wir im Garten hinter dem Haus, wo mein Vater eine Schaukel und später sogar eine metallene Wippe sowie einen Sandkasten aufgebaut hatte.
Wir spielten "Cowboy und Indianer", Nachlaufen und Fangen. Bei schlechtem Wetter spielten wir im Kinderzimmer mit unseren Wiking-Autos. Außerdem hatten wir massenhaft Legosteine, mit denen wir Kinder tagsüber und nachts mein Vater wunderbare Gegenstände zusammenbauten.
Als ich eingeschult wurde, bekam ich einen Tretroller. Das Brett, auf dem ch stand, war aus Holz. Die Vollgummireifen bremsten meinen Bewegungsdrang sehr bald aus.
Zur Kommunion bekam ich dann einen Roller mit Gumminoppen auf der metallenen Stehfläche und Ballonreifen. Auf dem vorderen Schutzblech war ein bunter Wimpel mit der Aufschrift "Pucky" angebracht. Mit diesem Roller fühlte ich mich wie der König von Lessenich.
Mit ihm bin ich verbotenerweise auch zum Einkaufen gefahren. Zweimal kam die Milch deswegen nicht in der bezahlten Menge bei meiner Mutter an. Einmal bin ich beim Überqueren einer Bordsteinkante abgerutscht und mit dem Roller umgefahllen, einmal habe ich mit der Blechkanne einen Überschlag in der Luft versucht und nicht geschafft, was mein älterer Bruder mir mit einem gekonnten Looping der Milchkanne voregemacht hatte, bei dem der Inhalt drinnengeblieben war.
Die Milch kauften wir beim Milchhändler. Die Kraußgasse, die von der gartenstraße hinunter zur Hauptstraße führte und an deren unterer Ecke rechts sich sein Laden befand, wurde in Lessenich nur nach dem Namen des Milchhändlers benannt. Der Mann oder seine Frau saßen in weißem Kittel hinter der Theke und pumpten die Milch mit einem metallenen Schwengel aus einem großen Tank in die mitgebrachten Milchkannen der Kundschaft hinein.
Nach und nach erblindete der Milchhändler. Er trug eine dunkle Brille und stand nur noch selten auf, um Kundschaft im Laden etwas zu zeigen. Das übernahm dann meist seine Frau.
Immer öfter war die Milch später auch einmal sauer. Meine Mutter meinte, der Händler würde den Tank nicht leeren, sondern die neu gelieferte frische Milch nur hineinfüllen lassen, um so Geld zu sparen. Dennoch kauften wir weiterhin bei ihm ein.
Doch nicht nur der milchmann, sondern auch ich selbst musste mich mit einer einsetzenden Sehbehinderung auseinandersetzen. Sie betraf auch meine beiden ältern Brüder und einige Brüder meiner Mutter. Meinem Vater machte unsere beginnende Behinderung mächtig zu schaffen, wohingegen wir selber sie noch nicht wirklich bemerkten.
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