Lebendiges Lessenich: Meine Kindheit zwischen Solidität und Solidarität

Jeder kannte jeden in Lessenich. Jede kannte jede; und manche kannten sich aus.
Da gab es die „Dorfzeitung“, die am Gartenzaun die neuessten Informationen frei Haus lieferte und sich über die angebliche Amoral der Anderen aufregte. Da gab es aber auch eine große Selbstverständlichkeit, einander auszuhelfen und miteinander zu teilen. Solidarität wurde groß geschrieben und noch großartiger praktiziert.
Stelle man nach Ladenschluss, der damals von gesetzes wegen um 18.30 Uhr unabwendbar war, fest, dass man einen wichtigen Einkauf vergessen hatte oder einem etwas Wichtiges fehlte, klingelte man bei der Nachbarin. Die halft dann aus mit Milch und Eiern, Margarine oder Mehl. Am nächsten Tag erhielt man ungefragt zurück, was man am Vorabend ausgeborgt hatte.
Auch der Lebensmittelladen schrieb an, bis jemand die Summe erreichte, die dem Milchmann die Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Wer seine Geldbörse vergessen hatte, konnte beim nächsten Einkauf bezahlen, was er mitnahm. Doch die meisten kamen nach einer Viertelstunde wieder, um ihre gerade gemachten Schulden sofort zu begleichen.
Als meine Schwester geboren wurde, musste mein Vater mehrmals mit den Krankenhaus telefonieren. Da wir kein Telefon besaßen, ging er deswegen zum Nachbarn. Nachdem er ihm mehrmals vergeblich das Telefongeld angeboten hatte, beschloss er, sich einen eigenen Apparat anzuschaffen.
Einen Fernseher hatten wir schon seit 1958. Damit gehörten wir zur ersten Million Deutscher mit Fernsehanschluss. Natürlich war der Bildschirm klein und das Bild nur schwarz-weiß.
Der Fernseher stand im Esszimmer, denn das Wohnzimmer benutzten wir fast nur, wenn wir Besuch bekamen. Auf der Couch dort schliefen mitunter aber auch meine Onkel, wenn sie bei uns übernachteten.
Meinen Onkel Willi mochte ich besonders gern. Er brachte sein großes Tonbandgerät mit und produzierte dann Hörspiele mit uns Kindern. Dafür besaß er auch Schallplatten mit Geräuschen wie Hühnergegacker oder Motorenlärm, Glockenläuten und Hundegebell.
Mein Onkel Heinz bekam zunehmend Probleme mit den Augen. Mein ältester Bruder, der damals schon das Gymnasium besuchte und Latein lernte, ging öfters nach Duisdorf, um ihm vorzulesen. Wegen seiner Sehbehinderung hatte mein Großvater Heinz ein Studium ermöglicht, das er auch mit Erfolg abschloss.
Mein Onkel Adi war am häufigsten bei uns. Eine Zeit lang kam er mit seinem Motorroler, bevor er dann einen Lieferwagen von „Brauns Eierlikör“ fuhr und schließlich seinen eigenen Glas 1204 Sportcoupé. Auf der Rückbank dieses eher kleinen Autos, die nur als „Notsitz“ deklarariert war, fanden meine drei Brüder und ich gerade eben so Platz.
Eine Bezahlung bekam Uli dafür nicht. Allerdings gab meine Tante ihm Kuchen und gelegentlich auch Schokolade. Solidarität galt schließlich auch viel innerhalb der eigenen Familie.
Genügsam waren wir damals und geduldig. Weit erschienen mir die Autofahrten über Witterschlick und Peppenhoven bis nach Rheinbach. Gelegentlich begann das Kühlwasser des Autos bei heißem Wetter auch, bedenklich zu dampfen.
In der Nachbarschaft zog jemand um. Ein roter Möbelwagen stand auf der Gartenstraße und wurde von den Möbelpackern beladen. Wir Kinder standen am Straßenrand und schauten den Männern beim Arbeiten zu.
Ein Nachbar setzte mit seinem Opel Rekord zum Überholen an. Genau in der Sekunde, als das Auto an dem Möbelwagen vorbeifuhr, stieß ein Windstoß die große Hecktür des Möbelwagens auf. Die Tür schlug genau in die Windschutzscheibe des Wagens.
Die Scheibe zersplitterte in tausend kleine Scherben. Die Türkante traf den Autofahrer direkt am Kopf. Sicherheitsgurte hatte man damals noch nicht.
Al dass sahen wir Kinder mit ebenso großem Entsetzen wie die anwesenden Erwachsenen mit an. Der Nachbar verstarb noch an der Unfallstelle. Er hinterließ seine junge Ehefrau und ein kaum einjähriges Kind.
Fortan kümmerten sich die Nachbarinnen ringsum reihum um die junge Witwe. Sie luden sie zum Kaffeetrinken oder Mittagessen ein oder besuchten sie auch mal unangemeldet. Heimlich sprachen sie sich untreinander ab, damit die junge Witwe keinen Tag ohne Besuch alleine blieb.
Selbstverständlich brachten sie der Frau auch fast immer Kuchen oder Gebäck mit. Ihnen war klar, dass die Witwe wohl zumindest zunächst auch finanzielle Sorgen hatte. Ihre Großzügigkeit ließen die Lessenicherinnen die Frau aber nie spüren.
Kam jemand an unsere Haustür und bat um Geld, dann gab meine Mutter ihm immer nur belegte Brote und Kaffee oder Tee. Geld rückte sie niemals raus. „Davon kaufen die sich doch nur Alkohol“, meinte sie.
Doch verhungern lassen durfte man niemanden. Das wusste die Generation derjenigen, die in der Nachkriegszeit jahrelang ahtte hungern müssen. Die Versorgung Bedürftiger mit Essen und Trinken war also eine mitmenschliche Pflicht.
Einmal kam ein „Penner“ und warf das Brot weg, das meine Mutter ihm an die Haustür gebracht hatte. Als sie das sah, sagte sie zu ihm, er brauche nie wiederzukommen. „Brot ist Gottesgabe“, erklärte sie immer.
Nach mehreren Monaten kam der selbe Mann wieder zu unserem Haus. Meine Mutter erkannte ihn sofort wieder. Flehentlich bat er sie, ihr etwas zu Essen zugeben, denn er habe Hunger.
„Das ist die letzte Chance“, sagte sie und brachte ihm belegte Brote und Kaffee. „Mit einem seligen gesichtsausdruck saß der Mann auf der kleinen Steintreppe vor unserer Haustür und kaute und trank.
Reich waren meine Eltern nicht gerade mit ihren damals fünf Kindern. Da wurde ganz genau auf jeden Groschen geguckt. Hunger gelitten haben wir aber nie.
Mein Vater war „ein kleiner Behördenangestellter“. So bezeichnete er sich selber zumeist. Seine Dienststelle war das Auswärtige Amt in Bonn.
Ein Nachbar hatte auf dem Türschild vor seinem Namen die Abkürzung „Dr.“ stehen. Mein Vater witztelte, dass er so seinen Vornamen „Dieter“ abkürze. Doch Dieter F. besaß wirklich einen Doktortitel.
Im Haus daneben wohnte eine Familie mit ihrem erwachsenen Sohn. Er promovierte, weshalb mein Vater ihn als „ewigen Studenten“ bezeichnete. Später sprach er jedoh mit Hochachtung von dem Promovenden.
Der Jungsozialist erledigte nämlich ehrenamtlich alle Schreibarbeiten für den Gemeinderat von Lessenich. Der Bürgermeister hätte da vermutlich ziemlich alt ausgesehen, war er doch kein Mann des geschliffenen Worts, sondern der tatkräftigen Aktion. Beide waren aber vor allem Sozialdemokraten „des alten Schlags“ mit einer klaren Abneigung gegen Faschismus, worin sie sich auch mit meinem eher wertkonservativen Vater trafen.
In Lessenich ließ man niemanden verkommen. Selbst die Familie von Karli, nach dem der Zeigestock des Oberlehrers benannt war, hatte eher Probleme mit der Polizei als mit der Dorfbevölkerung. Im Zweifel nahm ganz Lessenich die „unerzogenen Rabauken“ mit Verweis auf das problematische Elternhaus in Schutz.

2 Kommentare zu “Lebendiges Lessenich: Meine Kindheit zwischen Solidität und Solidarität

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