An meinem ersten Schultag saß Willi neben mir. Auch an meinem letzten Schultag vor dem Abitur saß er neben mir.
Willi war wirklich mein bester Freund. Viele Jahre lang saßen wir nebeneinander in der Schule. Zwischendurch saßen wir auch mal nicht nebeneinander, zumal wir beide unsere obligatorische „Ehrenrunde“ in unterschiedlichen Jahren drehten.
Willi teilte mit mir die Abneigung gegen Mathematik und die Liebe zur Sprache. Sein Witz war legendär. Seine Witze waren noch legendärer.
Willi war eher klein und quirlig. Ich war eher groß und behäbig. Man hätte uns durchaus vergleichen können mit einem Komikerpaar, das dann allerdings den Namen „dick und schlau“ hätte tragen müssen.
Willi war Literat und Philosoph. Er genoss den Respekt seiner Mitschülerinnen und Mitschüler nicht nur wegen seiner Klugheit, sondern auch wegen der Klarheit seiner Haltung. Doch trotz – oder vielleicht gerade wegen – dieser herausragenden Intelligenz wurde Willi nicht alt.
Willis Vater war klein und streng. Die körperliche Größe hat Willi von ihm geerbt. Die geistige Größe hat er sich selbst hart erarbeitet.
1961 wurden wir beide noch im alten schulhaus von Lessenich eingeschult. 1962 zogen wir um ins neue Schulgebäude bei der „großen Kreuzung“. Weiterhin saßen wir zwei nebeneinander und tuschelten gelegentlich auch mal miteinander, obgleich wir beide eher brave Kinder waren.
1965 wechselten vier Kinder von der Laurentiusschule Lessenich zum Helmholtz-Gymnasium Duisdorf. Willi und ich waren dabei. Willi und ich blieben beste Freunde. Aber im Gegensatz zu mir hatte Willi immer viele Freunde.
Willi fuhr fortan mit dem Farrad zur schule. Ich lief zu Fuß. Durch Wind und Wetter musste er aber genauso wie ich dorthin gelangen.
Willi war auch Messdiener in der katholischen Kirche. Ich habe das niemals angestrebt. Aber willi nutzte diese Rolle manchmal auch, um die Kirchgänger beim Gottesdienst mit Grimassen und Faxen sowie Pseudo-Lagein zu erheitern.
Willi war ein lustiger Clown. Doch im Grunde seiner Seele war er traurig und einsam. Er wünschte sich die Zuneigung seines Vaters, der hohe Erwartungen an seinen Sohn hatte, denen Willi zwar meist, doch nicht immer entsprach.
Englisch lernten wir beide gern. Deutsch war unser beider bestes Fach. Mathematik war eine gemeinsame Quelle tiefster Abneigung, zumal viele Lehrer uns den Unterricht durch ein unsensibles Auftreten und „schwarze Pädagogik“ massiv vergällten.
Bereits mit 15 Jahren schrieb Willi Gedichte. Wenig später machte ich es ihm nach. Aber seine waren immer besser als meine.
Mit 17 schrieb Willi sein erstes Drama. Dergleichen habe ich bis heute nicht geschrieben, obwohl ich im Leben mancherlei Dramen erlebt habe. Aber Dramatiker wurde ich trotzdem nicht.
Während des Mathe-Unterrichts in der Oberstufe erzählten wir uns leise Witze oder lasen uns gegenseitig unsere neuesten Gedichte vor. Mit diesem Lehrer hatten wir ein Abkommen getroffen: Er ließ uns in Ruhe, solange wir uns still verhielten. Wenn er jedoch ein logisches Problem den Schülerinnen und Schülern nicht erklären konnte, dann fragte er uns.
So konnte ich einmal die „Gulbinsche Formel“ zur Berechnung des Rauminhalts eines „rotierenden Thorax“ ableiten. Logisch war mir das deswegen klar, weil ich zur Berechnung des Volumens eines Reifens nur das Gummi aufschneiden und in die Form eines aufrecht stehenden Zylinders bringen müsste, um dann dessen Inhalt entsprechend zu berechnen. Danach genossen Willi und ich bei diesem Mathe-Leher Narrenfreiheit.
Nachdem ich auf den Venusberg umgezogen war, sahen Willi und ich uns meist nur noch in der Schule. Im Schulhof standen wir mit anderen Mitschülerinnen und Mitschülern beisammen und redeten. Oft war Willi der Wortführer.
Mit 17 hatte ich mich in eine Mitschülerin verknallt. Im Englischunterricht saß sie vor mir im Gegenlicht. Nicht sattsehen konnte ich mich an ihrem langen blonden Haar und seinem Glanz in der Sonne.
Vom Sportunterricht war ich wegen meiner fortschreitenden Sehbehinderung befreit. Meist saß ich aber am Fußballfeld der Schule auf den Stufen, die auch als Tribüne dienten. Manchmal saß meine Angebetete dort neben mir.
Sie trug eine Blue Jeans und ein weißes kurzärmeliges T-Shirt. Sie räkelte sich und streckte ihre Arme aus, bis das T-Shirt den Bauch bis fast zu den Brustwarzen freigab. Gerne hätte ich die Sommersprossen auf ihrem Bauch mit den Fingern berührt, doch ich traute mich nur, diese sieben Sommersprossen schweigend zu zählen.
irgendwann fasste ich mir ein Herz und überreichte ihr einige Gedichte von mir. Mit einem dicken Kloß im Hals trottete ich neben ihr her. Sie war freundlich zu mir, aber beileibe nicht erfreut über meine Avancen.
Sie war wohl die attraktivste Schülerin des Gymnasiums und hatte viele Verehrer. Sie entsprach nicht nur meinem Idealbild einer schönen Frau. Ein Mitschüler verglich sie damals mit der jungen Schauspielerin Senta Berger und meinte, die berühmte Darstellerin sei nicht so schön wie unsere Mitschülerin.
Trotz – oder vielleicht sogar gerade wegen – meiner absoluten Chancenlosigkeit als dicklicher schwitzender Brillenträger steigerte ich mich immer mehr in meine vermeintliche „Liebe“ hinein. Sonnette schrieb ich ihr, wie Willi sie mir vorgemacht hatte und wie wir sie von William Shakespeare aus dem Englischunterricht kannten. Noch zwei oder drei Jahre nach dem Abitur glaubte ich allen Ernstes, in diese schöne junge Frau verliebt zu sein.
Willi mochte das nicht mit ansehen. Doch anstatt mich von meinen Flausen abzubringen, sprach er meine Traumfrau an. Er warf ihr vor, mit ihren Reizen zu kokettieren und mich so nzuheizen, um mich dann „eiskalt links liegen“ zu lassen.
Es muss ein regelrechtes Scherbengericht gewesen sein, das er und einige andere wohlmeinende Mitschüler über sie abhielten. Geholfen hat das natürlich nicht. Vielleicht hat es das unbeschwerte Verhältnis zwischen mir und ihr sogar eher erschwert.
Letztlich geholfen hat irgendwann meine erste echte Beziehung zu einer anderen Frau. Doch das dauerte noch Jahre bis dahin.
Willis ältere Schwester war Kindergärtnerin. Nachdem die Gemeinde die alte Dorfschule zum Kindergarten umgebaut hatte, zog sie in die frühere Wohnung des Oberlehrers ein. Bei ihr traf ich mich manchmal mit Willi und anderen Schulfreunden aus Lessenich oder Duisdorf.
Dort hörten wir zusammen Musik und sprachen über „Gott und die Welt“. Lieder von Leonard Cohen spielte ein junger Mann aus Lessenich auf der Gitarre nach, wodurch ich diesen Postbeamten überhaupt erst kennenlernte.
Obwohl er erst 21 Jahre alt war, hatte er schon eine Glatze. Seine Freundin war 15 und bildhübsch. Gern hätte auch ich eine Freundin gehabt, doch ebenso wie Willi war ich leider allein.
Einmal traf ich das – ausnahmsweise nicht gerade glückliche – Pärchen beim Trafohäuschen an der Kreuzung in lessenich. Sie weinte, denn er hatte seit Stunden einen Horrortrip und kam nicht runter. Das war mir eine Warnung, die Finger von drogen zu lassen.
Willi hatte dergleichen wohl auch mal ausprobiert, dann aber auch die Finger davon gelassen. Doch zunehmend redete er von „Selbstmord“ und davon, ob er sich wohl vor einen Zug werfen könnte. Ich war bestürzt und dachte, er habe so viele großartige Anlagen, dass er sein Leben niemals wegwerfen dürfe.
Was immer Willi auch tat, es war seinem Vater niemals genug. Willis Schwestern hingegen umhegten Vater und Bruder mit großer Liebe. Vor allem Willis kleine Schwester, die gehbehindert war, mochte auch ich damals gut leiden.
Ihre Beine waren unterschiedlich lang. Das merkte man aber kaum. Doch ein Orthopäde riet, sie solle sich von ihm operieren lassen.
Die Knochen des kürzeren Beins wollte er dabei „strecken“. Doch die Operation misslang; und das Bein wurde noch kürzer. Fortan benötigte das Mädchen zum Laufen Krücken und humpelte damit in der Gegend herum.
Doch sie nahm es mit Humor, den sie sich offenbar von ihrem größeren Bruder abgeguckt hatte. „Gott ist ja so gerecht“, bemerkte sie. „Wenn er Dir ein kürzeres Bein gibt, macht er das andere dafür umso länger.“
Willis ältere Schwester ging am Wochenende gern in die Bonner Kneipenmeile in der Nordstadt. Dabei lernte sie einen Journalisten aus Holland kennen. Stolz nahm sie Willi und mich mit, um ihn uns vorzustellen.
„Ich bin in Holland eine berühmte Journalist“, sagte der junge Mann mit leicht niederländischem Akzent. Ich jedoch hielt ihn für einen Angeber und ließ ihn das auch deutlich spüren.
Vielleicht zehn Tage später sah ich im Fernsehen einen Bericht über Roma, die an der deutsch-niederländischen Grenze diskriminiert wurden. Dort erblickte ich das Gesicht aus der Bonner Kneipe und hörte seine Stimme. Der niederländische Journalist hatte den Fall öffentlich gemacht und auch seine Kollegen vom westdeutschen Rundfunk (WDR) darauf aufmerksam gemacht.
1977 zog ich nach Marburg um. Nur selten sah ich Willi danach. Wenn ich meine Familie in Bonn besuchte, hatte ich oft nicht genügend Zeit.
Als ich fünf Jahre später wieder einmal Willis Wohngemeinschaft im Neubaugebiet Tannenbusch besuchen wollte und dort anrief, fielen meine beiden Schulkameraden, die zusammen mit ihm dort wohnten, aus allen Wolken: „Weißt Du denn noch nicht? Willi ist tot.“
Es traf mich wie ein harter Schlag. Nachdem Willi endlich eine Freundin und damit wohl auch seinen inneren Frieden gefunden hatte, war ich erleichtert gewesen und glaubte nicht mehr an eine böse Überraschung. Seine Freundin stammte aus Schottland und war nett sowie verständnisvoll.
Doch dann hatte Willi eine Klausur an der Uni vergeigt. In einer Kurzschlusshandlung warf er sich unmittelbar nach Bekanntgabe der Note an der nahegelebenen Bahnstrecke vor einen Zug. Was er Jahre zuvor angekündigt hatte, das hat er dann doch auch wirklich gemacht.
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