Moralisches Dilemma: Unverzichtbare Unterstützung für die Ukraine

Mitten in Europa wütet ein furchtbarer Krieg. Mehr als 122.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind bereits in Deutschland angekommen.
Europa, Deutschland und Marburg erleben eine wunderbare Welle praktizierter Solidarität. Die Bereitschaft zur Hilfe ist gigantisch groß. Angesichts der verbrecherischen Angriffe auf wehrlose Kinder, FRauen, alte und behinderte Menschen in der Ukraine ist die große Hilfsbereitschaft wirklich sehr erfreulich.
Drei Wehrmutstropfen mischen sich aber in die Tränen, die da aus Rührung, Trauer, Furcht und Wut vergossen werden: Zum Einen ist die Bereitschaft, farbige Menschen aus der Ukraine aufzunehmen, nach Angaben der Hilfsorganisation „Medico International“ deutlich geringer als die Offenheit gegenüber hellhäutigen Ukrainerinnen. Zum Zweiten gilt das auch für Geflüchtete aus anderen Ländern wie beispielsweise Afghanistan, dem Jemen oder dem ebenfalls kriegsgebeutelten Äthiopien.
Zum Dritten lädt sich die berechtigte Wut vieler Zeitgenossen auf den Angriffskrieg des russischen Militärs auf Menschen ab, die Russisch sprechen oder aus Russland kommen. Viele von ihnen sind jedoch erklärte Opponenten des Diktators Vladimir Putin und vor ihm sowie seiner Politik nach Deutschland geflohen. Derzeit sind mindestens 200.000 weitere Menschen aus Russland auf der Flucht vor der totalitären Diktatur des Kreml, die selbst das Wort „Krieg“ verbietet und mit 15 Jahren Gefängnis ahndet.
Rassismus ist jedoch kein guter Zug, wenn man Menschen in Not helfen will. Jede Frau und jeder Mann, der vor einem furchtbaren Krieg oder Verfolgung irgendwo auf dieser Erde flieht, der hat Schutz und Solidarität verdient. Das sollte weiterhin klar bleiben, wenn Deutschland seine Anstrengungen zum Schutz von Kriegsflüchtlingen zu Recht drastisch erhöht.
Dem ukrainischen Volk müssen alle demokratisch gesinnten Menschen die Solidarität zeigen, die es in seinem mutigen Abwehrkampf gegen den verbrecherischen Aggressor verdient. Dabei stehen die Demokratien des Westens jedoch in einem schier unauflösbaren Dilemma: Was immer sie tun; es ist nicht das Richtige!
Gibt man der ukrainischen Regierung Waffen, können sie in die Hände der russischen Soldaten fallen. Wahrscheinlich werden sie den Krieg und das Leiden nur verlängern, aber nicht wirklich beenden. Möglicherweise wird Putin Waffenlieferungen sogar zum Vorwand für einen Angriff gegen diejenigen Länder nehmen, die diese Waffen in die Ukraine hineingelassen haben.
Gibt man der ukrainischen Armee jetzt jedoch keine Waffen, lässt man die Menschen in Kiew und Mariupol schmählich im Stich. Tatenlos schaut man mit zu, wie sie ausgehungert, beschossen und abgeschlachtet werden. Das wird wohl später einmal ein historischer Schandfleck auf der menschenrechtlichen Weste des Westens werden.
Gebietet man Putin keinen Einhalt, wird er wohlmöglich weiterziehen und weitere Länder angreifen. Droht man ihm mit empfindlichen Reaktionen, könnte er einen Atomkrieg beginnen und die gesamte Welt zerstören. Lässt man ihn gewähren, könnte er sich aber auch dazu ermutigt fühlen, die Völkergemeinschaft mit der Androhung eines Atomschlags zu erpressen.
Während die Bundesrepublik jetzt zwar auch Waffen in die Ukraine liefert, jedoch nicht militärisch eingreifen will, hat sie gegenüber anderen Regimes jahrelang keinesolchen Skrupel gehabt. Ägypten und die Türkei erfreuen sich deutscher Waffenlieferungen ebenso wie Saudi-Arabien, das an einem einzigen Tag 81 Menschen hinrichtet und an vorderster Font im Jemen mitbombardiert. Die Menschen in der Ukraine verstehen wohl kaum, dass deutsche Zurückhaltung dort keine wesentliche Rolle spielt, wohingegen die Ukraine sehr lange auf solche Lieferungen warten musste, die man dennoch durchaus kritisch betrachten kann.

Der Karren sitzt tief im Dreck. Jahrelang hat auch die westliche Politik ihn tief hineingefahren, indem sie Putin mit Samthandschuhen angefasst hat, ihm zugleich aber niemals einen sicheren Rahmen an friedenspolitischen Zusicherungen angeboten hat, der ihn hätte zufriedenstellen. Doch seine Großmachtphantasien sind rückwärtsgewandt und beziehen sich positiv auf das kolonialistische Sowjetreich und seinen verbrecherischen Diktator Josef Stalin.
Ganz hilflos sind die Demokratien allerdings nicht. Die erste und wichtigste Lehre aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die Forderung nach einem konsequenten Völkerstrafrecht, das – unabhängig von dem lahmgelegten Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) – alle Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weltweit ahndet. Jeder und jede, die oder der sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hat, muss damit rechnen, vor einem internationalen Kriegsverbrechertribunal zu landen und sich dort für seine oder ihre Taten rechtfertigen zu müssen. Die Diktatoren selbst wird das wohl weniger von ihren verbrecherischen Mordtaten abhalten, vielleicht aber ihre liebedienerischen Mittäter im persönlichen Umfelt und die Kommandeure auf dem Schlachtfeld.
Am Ende bleibt jedoch der fade Beigeschmack zurück, dass wieder einmal andere Menschen schlimmste Grausamkeiten erleiden, an denen wir möglicherweise eine – wenn wahrscheinlich auch nur geringe –
Mitverantwortung tragen. Die Hinwendung zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Absage an Gewalt sowie der Einsatz für mehr Klimaschutz sind angesichts des Erpressungspotenzials der russischen Gas- und Öllieferungen ebenso wichtig wie der Aufbau einer zukunftweisenden Wirtschaft in Verantwortung vor dem Gemeinwaohl und der Schöpfung. Während wir daran arbeiten, sollten wir die aktuelle Not der Menschen jedoch nicht aus dem Auge verlieren und all denen helfen, die unstere Unterstützung unbedingt jetzt brauchen.