Schleimspuren und Schnecken: Beharrungskräfte von oben und unten

Warum sind politische Entscheidungsstrukturen immer so schwerfällig? Was macht die Beharrungskräfte so stark?
Der Klimawandel schreitet rasant voran. Seit mehr als 40 Jahren ist das –
mehr oder weniger – bekannt. Doch Verbesserungen im Klimaschutz schleichen den dramatischen Veränderungen im Schneckentempo hinterher.
Jahrelang haben Klimaleugner die Fortschritte ausgebremst. Dass sie möglicherweise von Profiteuren aus Energiewirtschaft, Autolobby und anderen klimaschädlichen Industrien unterstützt oder bezahlt worden sein könnten, mag man zumindest vermuten. Warum aber haben auch Menschen den Klimawandel geleugnet, die garantiert keine Aktien besitzen und deren Wohlstand überaus begrenzt ist?
Dass Automobilhersteller mit Produkten der Hochgeschwindigkeitsklasse enge Verbindungen zu Politikern der Partei des amtierenden Verkehrsministers pflegen, muss man nicht unbedingt durch die Blume sagen. Warum sich der Verkehrsminister Volker Wissing mit Händen und Füßen gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen wehrt, können sich intelligente Menschen an fünf Fingern zusammenzählen. Warum aber auch Leute für „freie Fahrt für freie Bürger“ plädieren, die sich gar kein schnelles Auto leisten können, das erschließt sich vermutlich eher erst bei genauerem Hinsehen.
Interessen der Profiteure an einer Verzögerung von Maßnahmen zum Klimaschutz, die ihre Profite schmälern könnten, liegen auf der Hand. Sie wollen ihren Besitzstand so lange wie möglich wahren. Notfalls greifen die Lobbyisten dann zu Methoden der Beeinflussung oder Bestechung.
Das tun sie auf dem politischen Parkett genauso wie durch eine entsprechende Propaganda. Eigens zu diesem Zweck haben Vertreter der Metallindustrie die sogenannte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) gegründet, die mit einer Sozialen Marktwirtschaft im Geiste von Prof. Dr. Ludwig Erhard wahrscheinlich genauso wenig gemein hat wie der sogenannte „real existierende Sozialismus“ mit den Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels. Doch trotz aller Hetztiraden gegen Forderungen nach „Verzicht“ wird die Welt auf den Neoliberalismus verzichten müssen.
Getrieben sind die Beharrungskräfte der Besitzenden von der Furcht um ihre Profite. Erst, wenn ihre Gewinne eindeutig gefähredet werden, lassen sie sich zu Veränderungen hinreißen. Das ist beispielsweise auch der Grund, warum die deutsche Automobilindustrie die Elektromobilität völlig verschlafen hat.
Die Propagandisten der „Märkte“ reden von „Marktwirtschaft“. Wann immer aber die Marktmechanismen Probleme produzieren, dann rufen sie lauthalst nach Unterstützung vom Staat. Am Ende gibt es die freie Marktwirtschaft gar nicht, sondern sie ist nur eine Ideologie weniger Besitzender.
Hinzu kommen aber auch die Beharrungskräfte „von unten“. Die Besitzlosen und vor Allem diejenigen, die einen bescheidenen Wohlstand gefährdet wähnen, haben Angst vor Veränderungen, die sie ins wirtschaftliche Elend stürzen könnten. Ihre Erfahrung besagt schließlich, dass ihre Armut den Reichen egal ist.
Nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“ greifen sie die jahrzehntealte neoliberale Propaganda auf und wehren sich gegen Veränderungen. Im Kampf um ihr kleines Bisschen Wohlstand lassen sie sich dann auch von Verschwörungsmythen „überzeugen“. Angst ist die Triebkraft hinter vielen „Querdenkern“, Corona-Leugnern, Leugnern des Klimawandels oder sogenannten „Putin-Verstehern“.
Sie sorgen sich um ihre Zukunft. Ihre Gegenwart oder Vergangenheit möchten sie auf jeden Fall retten. Wenn sich Wesentliches ändert, dann argwöhnen sie – sicherlich oft nicht ganz ohne Grund – letztlich, dass sie die Opfer dieser Veränderung werden könnten.
Die „Beharrungskräfte von unten“ und die „Beharrungskräfte von oben“ haben wenig miteinander gemein. Gemeinerweise mögen die Reichen die Aktivitäten der Armen finanzieren, ohne aber dabei an deren Wohlergehen zu denken. Sie denken an ihren Profit und plündern so diejenigen noch einmal aus, die ohnehin bereits Opfer ihres Raubbaus gworden sind.
Am Ende mutiert der Fortschritt angesichts dieser Umklammerung der Politik durch Beharrungskräfte am oberen und am unteren Ende des sozialen Spektrums zu einer Schnecke. Sie kriecht auf einer Schleimspur dahin, die manche Politiker in eilfertiger Anpassung an die Wünsche der Beharrungskräfte abgesondert haben. Nicht zuletzt zur Verhinderung dieser Verhinderungsstrategien von Lobbyisten ist eine größtmögliche Transparenz bei politischen Entscheidungen überlebenswichtig für eine zukunftsfähige Demokratie.

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