Zu Weihnachten 2012 hat sie mir „Die Flucht nach Ägypten“ von Otfried Preußler vorgelesen. Das war ganz genau ihre Geschichte. Flucht und Vertreibung kannte meine Schwiegermutter aus eigener Erfahrung nur allzu genau. Böhmen, durch das der einfallsreiche Kinderbuchautor und Märchenerzähler die „Heilige Familie“ mit dem Jesuskind flüchten lässt, war ihr ebenfalls gut vertraut. Irmgard Sturz stammte aus dem Sudetenland, aus dem sie und ihre Familie nach dem Kriegsende aufgrund der Bennesch-Dekrete vertrieben wurden.
Die ersten Jahre ihrer Kindheit verlebte meine Schwiegermutter in Karvin. Ihr Vater war dort Gutsverwalter des Fürsten Larisch. Bis zu ihrem Tod an Ostern 2015 hat sie jede Weihnachten einen langen Brief von der fürstlichen Familie erhalten.
In ihrem Nachlass haben wir einen Orden gefunden, den der Fürst einem ihrer Vorfahren verliehen hatte. Auf der Anstecknadel waren ein stilisiertes Pferd sowie das Familienwappen der Larischs zu sehen. Diese Nadel hatte der Fürst vor mehr als 100 Jahren seinem Pferdeknecht Robert Flintham verliehen.
Irgendwo in England hatte Fürst Larisch ein edles Rennpferd erworben. Mit dem Pferd reiste auch der zuständige Pferdeknecht mit nach Karvin. Dort lebte er unter offenbar günstigen Verhältnissen, sodass sein Enkelsohn bereits zum Gutsverwalter aufstieg.
Dessen Töchter waren meine Schwiegermutter und ihre Schwester Helene. Beide wurden nach dem Ende des 2. Weltkriegs aus dem Sudetenland vertrieben, wo sie bis dahin die Schule besucht hatten. Meine Schwiegermutter hatte zwischenzeitlich in Leipzig ihre Ausbildung zur Bibliothekarin begonnen, während ihre ältere Schwester inzwischen als Grundschullehrerin arbeitete.
Nach dem Tod meiner Ehefrau Erdmuthe Sturz am 28. September 2010 besuchte ich ihre Mutter weiterhin zu Weihnachten. Wir hielten das bisherige Ritual mit all seinen Besonderheiten aufrecht, das zu einer Mischung aus Trauer und Trost mutiert war. Dazu gehörte die lesung des Weihnachtsevangeliums ebenso wie „Der kleine Lord“ mit Alec Guiness und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im Fernsehen.
Ganz zuvorderst aber gehörte dazu das traditionelle Weihnachtsessen, das meine Schwiegermutter von ihrer Großmutter geerbt hatte. Die Bezeichnung „Granny“ für „Großmutter“ sprach sie eher österreichisch aus und dehnte dabei das „A“ sehr lang,
sodass es wie „Grahni“ klang. Mit diesem Wort bezeichnete sie die Tochter ihres Urgroßvaters Robert Flintham.
Das Weihnachtsessen bestand aus einem Gänsebraten am 1. Weihnachtstag mit Rotkraut und Knödeln sowie einem beliebigen anderen Braten am 2. Feiertag. Am Heiligabend gab es ein Drei-Gänge-Menü mit einer Fischsuppe, der einmaligen „Powiddelsoß“ und danach Fisch mit Knödeln und „Welschem Salat“.
Welcher Salat als „Welscher Salat“ bezeichnet wird, ist schwer zu erklären. Es war eine Mischung aus Kartoffelsalat mit Dicken Bohnen und Grünem Salat. Ob noch mehr dazugehört, vermag ich nicht zu sagen.
Die „Powiddelsoß“ birgt ein Geheimnis, dem wir zu Lebzeiten meiner Schwiegermutter glücklicherweise noch nahekommen konnten: Heißes Pflaumenmus mit Rosinen und Schwarzwurz wird mit Sardellenpaste abgeschmeckt. Dazu wird frisch aufgebackenes Weißbrot oder Baguette gereicht.
All das hatten wir verspeist, bevor Irmgard Sturz mit der Lesung von Preußlers Geschichte begann. Immer wieder kommentierte sie kenntnisreich die Figuren, die Preußler der „Heiligen Familie“ gegenüberstellte. Ohne ihr Wissen hätte ich viele seiner feinsinnigen Anspielungen nicht verstanden.
Da lässt Preußler die flüchtende Familie an der starren Bürogratie der Habsburger K&K-Monarchie scheitern oder dem heiligen Wenzel begegnen. Der Weg nach Ägypten führt Maria, Josef und ihr Kind auf dem Schlitten durch das verschneite Böhmen, das anscheinend irgendwo zwischen Israel und Ägypten liegt. 1973 hat Preußler damit seine Kindheitserinnerungen auf amüsante Weise aufgezeichnet, die sich mit denen meiner Schwiegermutter teilweise decken.
Irmgard Sturz wurde 1920 geboren. In ihrem Leben hat sie viel miterleben müssen. Zwei Ehemänner und zwei Kinder sind vor ihr gestorben.
N
Als sie bereits 94 Jahre alt war, berichtete sie mir von ihrer Gymnastikgruppe, wo eine andere Teilnehmerin meinte, sie sei mit ihren 91 Jahren dort wohl „der Methusalem“. Die neue Gruppenleiterin meinte daraufhin nur: „Irgendjemand muss ja die Älteste sein.“
Als sie dann aber das Alter meiner Schwiegermutter hörte, da mochte sie es fast nicht glauben. Bis zu ihrem 94. Lebensjahr war Irmgard Sturz immer beweglich und aktiv. Das galt für ihren Körper und ihren Geist.
An Weihnachten hat sie mir viele Jahre lang ein Geschenk gemacht, das man in keinem Kaufhaus oder Versandkatalog bekommen kann. Sie hat mir ein sehr stimmungsvolles Fest voller Familientradition geschenkt, das mit gutem Essen, guten Gesprächen und viel Ruhe verknüpft war. Dafür bin ich ihr bis heute unendlich dankbar.