Das Selbsthilfeparadox: Auf das Müssen müssen wir wohl besser verzichten

Das „Selbsthilfeparadox“ ist eine heimtückische Falle. Nicht nur Behinderte sollten sich dieses Problems bewusst sein, um unnötige Konflikte zu vermeiden. <!–more–>

Das Grundprinzip der Selbsthilfe ist die eigene Betroffenheit. Nur sie eröffnet einen Zugang zu Erfahrungen, die Nichtbetroffene normalerweise niemals erwerben können. Die Betroffenheit macht Menschen in besonderen Lebenssituationen zu Expertinnen und Experten in eigener Sache.
Außenstehende hingegen können die besonderen Probleme der Betroffenen zwar analysieren und beschreiben, meist aber nicht aus eigener Anschauung heraus nachvollziehen. Damit fehlt ihnen ein wesentlicher Zugang zu einem vollständigen Bild der jeweiligen Lebenssituation. Auch mit großer Empathie kommen sie kaum an die umfassenden Einsichten heran, die die Lebenserfahrung den Betroffenen im alltäglichen Umgang mit ihrer Beeinträchtigung vermittelt.
Die Selbsthilfe nutzt diese persönlichen Erfahrungen für die Darstellung der jeweiligen Lebenssituation. Dabei beschreiben Betroffene ihre eigene Situation. Gemeinsam gewähren sie in Organisationen der Selbsthilfe auch Außenstehenden Einblicke in diese besondere Lage.
Letztlich schließen die Aktiven in der Selbsthilfe von sich und ihrer individuellen Erfahrung auf andere Betroffene. Das ist wichtig und richtig, um Nichtbetroffenen überhaupt eine einigermaßen angemessene Auseinandersetzung mit der jeweiligen Behinderung oder Beeinträchtigung zu ermöglichen. Durch die Summe unterschieddlicher Betroffener entsteht in der Regel auch ein einigermaßen umfassendes Bild der mit der jeweiligen Situation verbundenen Problematiken.
Das Selbsthilfeparadox entsteht jedoch genau dann, wenn individuelle Erfahrungen einzelner verallgemeinert werden, obwohl die zugrundeliegenden persönlichen Voraussetzungen nicht für alle anderen zutreffen, die unter die jeweilige Beschreibung subsummiert werden. Was für Geburtsblinde stimmt, trifft für Späterblindete nicht genauso zu. Was für hochgradig Sehbehinderte zutrifft, muss für Vollblinde nicht genauso gelten.
Bildung, Intelligenz und soziale Herkunft sind ebenfalls wichtige Voraussetzungen zur Bewältigung des Alltags. Auch unterschiedliche Altersgruppen bringen nicht genau die gleichen Voraussetzungen mit, um den Alltag mit einer vergleichbaren Beeinträchtigung zu bewältigen. Im höheren Alter fällt beispielsweise das Lernen viel schwerer als in der Jugend.
Noch problematischer ist eine Gleichsetzung Mehrfachbehinderter mit anderen Menschen, die nur von einer einzigen der Behinderungen betroffen sind, die bei den Mehrfachbehinderten aufeinandertreffen. Gerade Menschen mit mehreren Beeinträchtigungen fallen bislang durch das „Raster“ der Selbsthilfe hindurch, weil beispielsweise Taubblinde das fehlende Hörvermögen nicht durch Lippenlesen und Gebärdensprache ausgleichen können. Gehbehinderte Blinde können Stolperschwellen icht sehen und ihnen ausweichen, wie es sehende Menschen mit der gleichen Behinderung können.
Letztlich trifft auch für Menschen mit Behinderungen das zu, was für alle anderen auch gilt: Jeder Mensch ist individuell anders. Darum muss sich Hilfe immer an den individuellen Bedürfnissen jeder und jedes Einzelnen ausrichten.
Für die Selbsthilfe bedeutet das, das man von der „Unfähigkeitsvermutung“ ausgehen sollte: Was ich selber nicht kann, das können andere Betroffene möglicherweise auch nicht. Hürden, an denen ich selber scheitere, sind deswegen wahrscheinlich auch für andere Menschen mit der gleichen Behinderung problematisch.
Fatal hingegen ist die „Fähigkeitsbehauptung“ nach dem Motto „Was ich kann, das müssen alle anderen auch können.“ Leider trifft man in der Selbsthilfe gelegentlich auf Menschen, die genau nach dieser Devise verfahren und andere mit der gleichen Behinderung als „Faul“ oder „unwillig“ kritisieren. Das jedoch zerstört das Solidarprinzip der Selbsthilfe, das die gegenseitige Unterstützung zum Ziel hat.
Hier genau entsteht der wesentliche Widerspruch zwischen zwei Zielen der Selbsthilfe: Einerseits sollen Menschen mit Beeinträchtigungen nicht als hilflose Deppen dastehen, die letztlich nur leidend und bedürftig sind; andererseits sollte die Darstellung der Kompetenz von Menschen mit einer Behinderung nicht so überzogen aufgebauscht werden, als wären alle regelrechte „Superhelden“, die ihr Leben ganz ohne fremde Hilfe „meistern“. Kompetenzt ist letztlich nichts anderes als die Bereitschaft, die eigene Situation selbstkritisch zu reflektieren und daraus die individuell nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Der Hinweis „Ich löse das Problem mit diesem oder jenem Trick oder Hilfsmittel“ ist individuell erlaubt; allerdings sollte ein Betroffener ihn anderen Betroffenen nie ungefragt geben. Schließlich können Ratschläge nach dem Volksmund auch Schläge sein.
Bevormundung zu vermeiden, ist ja gerade das Ziel von Selbsthilfeorganisationen. Dabei ist unwesentlich, ob die Bevormundung durch Nichtbehinderte oder Organisationen geschieht oder durch andere Behinderte. Wer Tiefschläge vermeiden möchte, hält sich deswegen mit ungebetenen ratschlägen zurück und respektiert die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen mit wie auch ohne Behinderung.